Hungerblume – ungeweinte Tränen , 17.05.2022
Verletzende Erfahrungen können einen Bewohner in uns erwecken, den wir alle kennen – das Opfer. Es wohnt in unser aller inneren Welt und die Machtlosigkeit, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und das Leid, das einen überwältigen kann, wenn wir verletzt wurden, das ist uns vermutlich allen vertraut. Vielleicht ist es auch der Schatten eines Opfers, der uns immer wieder animiert, erneuet Opfer zu werden.
Es gibt natürlich einen Unterschied, zwischen Opfer-sein und Opfer-spielen. Aber wenn wir Schmerz und Leid erfahren haben, dann kommen wir mit diesem Archetypen in einer Form in Kontakt, die unser Mitgefühl braucht. Und wenn wir Leid da draußen in der Welt begegnen, dann erinnert uns dieses an unsere eigene Verletzlichkeit, welche wir brauchen, um durch unsere eigenen schmerzhaften Erfahrungen durchzugehen. Wenn wir stattdessen hart werden und uns nichts mehr berühren darf, dann können wir nicht heilen.
Wir wissen, dass Traumata, die sich über Generationen weitergetragen haben, dann geheilt werden, wenn irgendwann die ungeweinten Tränen geweint werden. Wenn wir stattdessen in unserem Inneren Dämme bauen, um unsere Gefühle einzusperren und aufzustauen, dass wird irgendwann der Tag kommen, an dem die Dämme brechen und die Gefühle uns überrollen.
Im Bäuerlichen Brauchtum war es das Wiesenschaumkraut, das lange Zeit eine Zeigerpflanze für Ernte und Wetter war. Standen im Mai die Wiesen voll mit der „Hungerblume“ bedeutete dies, dass es wenig Heu im Sommer und eine Überschwemmung im Herbst geben würde.
Wir haben nicht unbedingt von unseren Vorfahren gelernt, was es bedeutet in einer gesunden Form unsere Gefühle und damit auch unser Leid anzunehmen und uns unserer eigenen Verletzlichkeit gegenüber zu öffnen und uns damit auseinanderzusetzen, weil wir ja meist vom Außen gespiegelt bekommen, dass wir das irgendwie nicht richtig machen, dass unsere Art damit umzugehen falsch ist. Und so kann unser ganzes Gefühlsleben gar nicht richtig in uns fließen.
Möge uns das Wiesenschaumkraut helfen, eine gesunde Beziehung zu Leid und damit zum Archetypen des Opfers in uns aufzubauen, gerade weil wir wissen, dass Leid in unserer Welt real ist.